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Félix Vallotton, La lettre

 

Félix Vallotton
(Lausanne 1865 - Neuilly-sur-Seine 1925)
Der Brief, 1914
Öl auf Leinwand
88 x 82 cm
Inv.BA.AMC. 05b. 1921.000759
Erwerb auf der alle drei Jahre stattfindenden Messe in Lüttich am 1. August 1921


 

Der Blick wird zunächst von dem leuchtenden, leicht säuerlichen Gelb angezogen, das ins Grüne geht und durch die Schatten der Falten einer weiten Bluse kontrastreich nuanciert wird. Die Augen ruhen dann auf dem Hals, einem sehr hellen Dreieck fast in der Mitte der Komposition, um sich dann dem Gesicht zuzuwenden, das in schwachem Hell-Dunkel gehalten ist, mit regelmäßigen Zügen, markanten Augenbrauen und goldbraunem, rotem Haar in einem kurzen, natürlichen Schnitt, der für die damalige Zeit (1914) gewagt war. Der Blick ist ruhig, aber von Melancholie geprägt. Auf dem Schoß liegt ein Brief, der mit den Fingerspitzen festgehalten wird, ein paar gekritzelte Zeilen, zerknittertes Papier, Worte, die zweifellos gelesen und wieder gelesen wurden.

Vallotton war ein großer Porträtmaler: Er schuf mehrere Dutzend Porträts, nackte oder halbnackte Frauen in sinnlichen Posen oder, im Gegenteil, mit hieratischen Gesichtern, die eine gewisse Distanz zum Betrachter markieren, in nüchternen und eleganten Haltungen, die sich vor einem neutralen Hintergrund abzeichnen.

Félix Vallotton, der 1865 in einer bürgerlichen protestantischen Familie in Lausanne geboren wurde, verließ die Schweiz mit 18 Jahren und trat 1883 in die Académie Julian in Paris ein, eine Privatschule, die er wegen der dort herrschenden Freiheit den Bildenden Künsten vorzog. Er war fasziniert von den Porträts des deutschen Renaissancemalers Hans Holbein d. J. und kopierte unermüdlich die im Louvre ausgestellten großen Meister wie Dürer, Leonardo da Vinci oder Ingres.

Im Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit markierte er seine Sympathie für die anarchistische Bewegung und schloss sich 1897 der Gruppe der Nabis an, die ein Jahrzehnt zuvor von fünf seiner ehemaligen Mitschüler gegründet worden war: Maurice Denis, Pierre Bonnard, Paul Sérusier, Ker-Xavier Roussel und Paul-Elie Ranson. Diese Gruppe, die durch Gauguins Synthetizismus angeregt wurde, wollte an die "reinen" Quellen der Kunst anknüpfen, die ägyptische Malerei, japanische Drucke oder mittelalterliche Kirchenfenster. Sie wollen entschieden mit der seit der Renaissance entwickelten Modellierung und Perspektive oder auch mit dem Impressionismus brechen, den sie damals als zu affektiert empfanden. Diese Künstler bevorzugen reine, flächige Farben und rhythmische Harmonien. Auf dieser Grundlage produzierten die einzelnen Mitglieder sehr unterschiedliche Werke.

Vallotton spezialisierte sich auf Holzschnitte mit einer Stilisierung der Formen und einer sehr klaren Trennung zwischen schwarzen und weißen Flächen. Die Radierungen, die er in zahlreichen Zeitschriften veröffentlichte, verschafften ihm Anerkennung bei der Pariser Avantgarde und auch auf internationaler Ebene. Er war ein umtriebiger Künstler, der nicht nur als Graveur, Illustrator und Maler (über 1700 Gemälde), sondern auch als Kunstkritiker und Schriftsteller tätig war. Er schrieb zwei Theaterstücke und den Roman La vie meurtrière (Das mörderische Leben), der 1907-1908 entstand und erst nach seinem Tod 1925, im Alter von 60 Jahren, veröffentlicht wurde.

Als Verführer heiratete er schließlich im Alter von fast 35 Jahren Gabrielle, die Tochter des Gemäldehändlers Alexandre Bernheim. Man kann also davon ausgehen, dass er sich in diese große bürgerliche Familie einreiht. Er nahm die französische Staatsbürgerschaft an und gab die Druckgrafik auf, um sich fast ausschließlich der Malerei zu widmen: Porträts von Bürgern, Intellektuellen und Künstlern, Landschaften, einige Stillleben oder Interieurszenen.

Der Brief gehört zu diesen reifen Werken, eine klassische Komposition in einem stets persönlichen, recht schlichten Stil, der durch seine voluminösen und einfachen Formen und die ausdrucksstarken Farben sehr modern wirkt. Die Figur des Lesers oder der Leserin ist ein wiederkehrendes Thema in der westlichen Malerei. Heute betrachten wir diese nachdenkliche junge Frau mit ein wenig Nostalgie: Kein Brief mehr, auf den man warten, den man immer wieder lesen oder in einer Schatulle verstecken muss. Nur E-Mail oder eine schnell verschickte Nachricht auf dem Handy.

Emmanuelle Sikivie
Spezifische Attachée
Kunsthistorikerin